Bären und
Kräuterheilkunde

Dr. Wolf-Dieter Storl
Ethnobotaniker und Kulturanthropologe
ein
Erfahrungsbericht
Wenn man den Bären in der freien Natur genau beobachtet, sieht man
sofort, dass man es mit einem meisterhaften Kräuterkenner zu tun hat. Mit seiner großen Nase, die mindestens
so gut riechen kann wie die der besten Spürhunde, nimmt er die Eigenschaften der Kräuter, Rinden und Wurzeln
wahr. Unsere keltisch-germanisch-slawischen Vorfahren schauten zu, wie der Bär, vom Winterschlaf erwacht,
sich an frischen grünen Frühjahrskräutern labte: saftiges junges Gras, wilde Zwiebeln, sich gerade
entrollende Farnwedel, junge Brennnesseln, Bärwurz (Ligusticum oder Meum), Kresse, Bärlauch, Bachehrenpreis,
Sauerampfer, Löwenzahn - alles Pflanzen, die den Darm reinigen, die Schlacken aus dem Blut treiben und die Drüsentätigkeit anregen.
Sie machten es dem Bären nach und erhoben die „Grüne Neune“, die grünen Frühlingssalate und Suppen, zur
Kultspeise.
Zuerst aber sucht der „Breitschädel“ die
Nieswurz (Helleborus), die stark purgierend wirkt und den Kreislauf wieder in Schwung
bringt. Auch Weidenrinde und Weidenknospen kaut er. Diese
enthalten Salizylsäure, ein natürliches Aspirin, welches überschüssige Harnsäure aus dem Blut und Gewebe treibt
und den Bär von Rückenschmerzen und Rheuma befreit, welche von
dem langen unterkühlten Liegen herrühren. Löwenzahnblätter frisst er gerne, denn sie sind harntreibend und
steigern den Gallenfluss. Spitzwegerich und Huflattich nimmt er zu sich, um sich von winterlichen Katarrhen
und Lungenverschleimung zu befreien. Sicherlich hat der berühmte Grizzlybärforscher und Wildniskenner T.E.
Seton Recht, wenn er behauptet, dass ein Bär mehr von Pflanzen und Wurzeln versteht als ein ganzes Kollegium
von studierten Botanikern.
Bei den zirkumpolaren Naturvölkern, den Sibiriern und
nordamerikanischen Indianern, ist es vor allem der „Bärengeist“, der dem Heiler und Schamanen die stärksten
Heilpflanzen offenbart. Ein Dakota erklärte: „Der Bär, der weder vor anderen Tieren noch vor den Menschen
Angst hat, ist zwar übellaunig, aber er ist das einzige Tier, das freundlich zu uns war und uns die beste
Medizin gezeigt hat. Er ist das einzige Tier, welches im Traum erscheint und uns die Kräuter zeigt, die den
Menschen heilen* können.“ Die logenartigen Heilerzünfte der Ojibwa-Indianer, die Midewiwin, die ihr
geheimes Kräuterwissen von Generation zu Generation weitergeben, folgen dem „Pfad des Bären“. Nur die
stärkste Kräutermedizin, nicht die alltäglichen Mittel, gelten als „Bärenmedizin“. Die Wurzeln einer solchen
„Bärenmedizinpflanze“ wurden in fünf bis sechs Zentimeter lange Stücke geschnitten und aufgefädelt, so dass
sie wie ein typisches Bärenkrallenhalsband aussahen. „Der Bär ist Häuptling der Pflanzenkunde“, so ein
Midewiwin-Medizinmann, „da kein anderes Tier solche guten Krallen hat, um Wurzeln auszugraben. Es ist
selbstverständlich, dass derjenige, der von einem Bären träumt, ein begabter Pflanzenheilkundiger
wird.“
Auch die Autoren der Antike, wie Plinius, Ambrosius und andere,
bezeichneten den Bär, ebenso wie den Hirsch, als Arzt unter den Tieren.
Man könnte sagen, dass man heilpflanzenkundig wird, wenn man sich mit
dem Bären in der Seele, mit seinen tiefsten Instinkten, wieder verbinden kann. Dazu braucht man - mehr noch
als ein Botanikstudium - vor allem offene, klare Sinne, wie ein Bär.
Die Algonkien und auch die verwandten
Cheyenne erzählen folgende Geschichte vom Bär als Lehrer der Pflanzenkunde: Ein alter Mann, krank, stinkend, mit
Geschwüren übersät, erschien eines Tages im Dorf. Niemand wollte ihn aufnehmen oder ihm etwas zu essen geben.
Man hatte Angst, er könne die Kinder anstecken. Eine arme Frau, die nur wenige Verwandte hatte und in einem
kleinen Wigwam am Dorfrand lebte, hatte Erbarmen und nahm ihn auf. Mit all den ihr bekannten Mitteln versuchte
sie ihn zu heilen, aber nichts half. Eines Morgens erzählte der Alte, der Große Geist hätte ihm im Traum eine
Pflanze gezeigt, die ihn heilen würde. Die Frau holte die Pflanze aus dem Wald und sie half tatsächlich. Gerade
als der Alte die Hütte verlassen und weitergehen wollte, bekam er einen Fieberanfall und wurde abermals krank.
Wieder halfen die Mittel, die die Frau kannte, nicht. Nach einiger Zeit verkündete der Alte, er hätte wieder
einen Traum geschenkt bekommen. Wieder hatte der Große ihm die richtige Heilpflanze gezeigt. Wieder holte die
Frau das angegebene Kraut, wurde er gesund. Als er sich abermals verabschieden wollte, zitterte er und musste
plötzlich erbrechen. Wieder war er krank, wieder erträumte er die Heilpflanze. So ging es ein ganzes Jahr lang.
Dann – endlich - war er wirklich gesund. Beim Abschied verriet er ihr „Der Große Geist hat mir gesagt, es sei
jemand in diesem Dorf, dem ich beibringen soll, wie man Kranke heilt. Ich wurde zu dir gesandt, um dich zu
lehren. Das habe ich getan.“ Dann legte er seinen Mantel um und ging hinaus ins Licht. Die Frau schaute ihm
verwundert nach. Am Waldrand, ehe er verschwand, verwandelte
sich der alte Mann plötzlich in einen Bären. Es war der Bärengeist gewesen, der die Frau zur Kräuterheilerin
berief.
* Siehe auch: Die Seele der Pflanzen ,
Die fünf Ebenen des Heilens und
Heilen mit den Kräften der Natur
Weitere Expert*innen teilen ihr Wissen mit
uns.
Siehe auch die Tibetische
Rezepturen
Inhaltliche Verantwortung und zur Kontaktaufnahme:
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