Die Seele der Pflanzen

Dr. Wolf-Dieter Storl
Ethnobotaniker und Kulturanthropologe
Das Kraut der Hexer
ADLERFARN - FRÜHLINGSTRIEB
Pteridium aquilinum
Du hebst dein Haupt aus sonnengeküsster Frühlingserde wie eine
grüne Schlange,
entfaltest deine Schwingen, wie der flügge gewordene
Jungadler.
Schlange und Vogel - weder dies noch das -,

wie der Schwan, voller Zauber.
Wie Mistel, Tautropfen und Nebel Avalons.
Warst Zauberwesen den Druiden, bist Zauberwesen geblieben, du Schlangenkraut,
Otterföhre, du Teufelsleiter,
Jesuschristuswurz.
Unwissend sind die, die da meinen,
du hättest weder Blüten noch echten Samen:
In der Johannisnacht, wenn die Sonne, drei Sprünge macht, wenn - wie zur
Weihnachtsnacht - Rosse und Rinder plötzlich reden,
aus Seen versunkene Schlösser schwebend sich erheben und weiße Jungfrauen um
Erlösung flehen,
wenn Geisterscharen schweifend wandern und Bilwisse über Felder
tanzen,
wenn Zwerge ihre Hochzeit feiern, die Ottern ihrem König huldigen und seltsame
Melodien aus Berges Innerem ertönen, dann blühst du, Farnkraut, in einem Augenblinzeln, goldgelb, blutrot, und
wirfst donnernd und krachend deine Samen ab. Wer des Waschens und Kämmens müßig geht, abschwört Sakrament und
Gebet,
wer in jener Nacht nackten Leibes den magischen Kreis um sich
zieht,
wer Zauberworte kennt und nennt, und die Farnsamen fängt, „der kann den Teufel
zwingen, seinen Tisch zu decken". Stichfest ist ein solcher, kugelfest, unsichtbar kann er sich
machen, die Sprache der Tiere verstehen, vergrabene Schätze entdecken, unedle
Metalle in Gold verwandeln,
Glück im Spiel hat er und in der sinnlichen Liebe, hat Schutz auf gefährlicher
Reise.
Freischütz, wird er sein, mit unfehlbarem Schuss, wenn er den Zaubersamen ins
Schießpulver mischt.
Dass es tatsächlich diese Samen gibt, bezweifelte im Mittelalter niemand: „Der
hät de Farnsame g'holt", sagen die Schwaben noch immer über den, den die Glücksgöttin geküsst hat. „Wir haben das
Farnsamenrezept; wir wandeln unsichtbar", lässt uns der Barde Shakespeare im Heinrich IV wissen. Die Hexer, die zu Mitternacht zu
Johanni den magischen Kreis mit einer Haselgerte zogen und auf einem Tuch, einer Tierhaut oder einem
Königskerzenblatt die winzigen Kügelchen auffingen, waren gefürchtet - vor allem von Kirche und Obrigkeit. Die
Inquisition ließ sie hinrichten. Noch im 17. Jahrhundert verurteilte die kirchliche Synode von Ferrara diesen
Brauch und der bayrische Herzog Maximilian erließ ein „Landesgebot" zur Bestrafung derjenigen, die sich Farnsamen
holten.
Der weltweit verbreitete Adlerfarn ist, wie auch Schachtelhalm und Moos, eine
fossile Pflanze, die seit der Steinkohlezeit vor 300 Millionen Jahren nachweislich ist, also lange bevor es
Blüten, bestäubende Insekten und Samen gab. Echte Samen hat er also nicht. Anstelle von Samen bilden sich am
schmalen Rand der Fiederchen die Sporenkapseln. Die Sporen keimen auf dem feuchten Boden, wo dann die Befruchtung
der Eizellen stattfindet.
Dass der Farn viel magische Kraft enthält, erfahren wir auch von der heiligen
Hildegard: „Der Farn enthält viel Kraft, und zwar solche Kraft, dass der Teufel ihn meidet. Die Wärme des Farns
bezieht ihre Wärme von der Sonne... Denn wie die Sonne das Dunkel erhellt, so verjagt er die Wahnbilder, und daher
sind ihm die bösen Geister gram. Wo er wächst führt der Teufel nur selten seine Täuschungen durch. Er meidet und
verabscheut das Haus und den Ort, wo ein Farn ist; Blitz und Hagel fallen dort selten." (Liber simplicis
medicinae, Kap. XLVII)
Mit freundlicher Genehmigung der
Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28
81673 München
Siehe auch Bären- und
Kräuterheilkunde
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